Fiat geht weg – und keinen interessiert’s - faz.de, 08.02.2014
Italien hat die Nachricht über den Weggang von Fiat mit einem Schulterzucken quittiert. Dabei haben sich viele Unternehmen längst in aller Stille gegen ihr Land entschieden.
Fiat verlässt Italien, und in Italien interessiert das fast niemanden. Was würde wohl umgekehrt in den Vereinigten Staaten passieren, wenn General Electric seinen Sitz in die Niederlande verlegen würde, wie würde Großbritannien reagieren, wenn Vodafone nach Zürich umzöge, fragt allerdings das kleine rechte Intellektuellenblatt „Il Foglio“. Die pragmatischen Angelsachsen würden sicher sofort darüber nachdenken, was dem eigenen Land fehle und was solch große Konzerne weggelockt habe. Bestimmt würde dort schnellstens ein Gesetz beschlossen, um abwanderungswillige Konzerne zu halten. Die Entscheidung von Fiat sei eine „Ohrfeige der globalen Wirtschaft für die italienische Interpretation der Modernität“, heißt es in dem kleinen Blatt, das auch vom wirtschaftspolitisch erfolglosen Silvio Berlusconi mitfinanziert wird.
Italiens öffentliche Debatte dreht sich schon wieder um das Klein-Klein der römischen Tagespolitik. Fiat hat zudem viel unternommen, um die Italiener zu beschwichtigen. Am Tag vor der Bekanntgabe der Entscheidung, nach der Fusion mit Chrysler den Firmensitz in die Niederlande und den steuerlichen Sitz nach Großbritannien zu verlegen, besuchten Fiat-Präsident John Elkann zusammen mit dem Geschäftsführer Sergio Marchionne den Ministerpräsidenten für eine höfliche Vorabinformation. Der Agnelli-Erbe Elkann gab der hauseigenen Tageszeitung ein beschwichtigendes Interview: „Mein Büro bleibt in Turin“, sagte Elkann. Geplant sei, in Italien die stillgelegten Fabriken wieder arbeiten zu lassen, und Turin bleibe weiterhin die Zentrale für Europa.
Die Regierung tut nichts
Die Gewerkschaften klagen wie bisher über die immer wiederkehrende „Kurzarbeit null“ in den vier Fiat-Fabriken Italiens. Sie erinnern an alte Investitionsversprechen von Fiat-Chef Marchionne aus dem Jahr 2010, die wegen der Wirtschaftskrise und wegen unkooperativen Verhaltens der Gewerkschaften dann zum größten Teil in die Zukunft verschoben wurden. Von der Regierung wird gemäß dem Reflex der siebziger und achtziger Jahre verlangt, sie möge Fiat zu einem runden Tisch einbestellen. Doch die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta tut bisher nichts. Außergewöhnlich war lediglich die drohende Ankündigung des obersten Steuerfahnders Attilio Befera, man werde den Umzug des offiziellen Unternehmenssitzes in die Niederlande und die Verlegung des steuerrechtlichen Sitzes nach Großbritannien genau unter die Lupe nehmen. Das könnte noch viel Ärger bedeuten. Denn wie in anderen Fällen wird von Fiat verlangt, jeglichen Wertzuwachs am alten Stammsitz in Turin vor dem Wegzug zu versteuern, zudem werden womöglich auch noch fiktive Lizenzgebühren für Autos italienischer Marken angesetzt, die im Ausland gebaut und verkauft werden.
Trotzdem meint ein langgedienter italienischer Wirtschaftskapitän, der Unternehmen mit vielen zehntausend Mitarbeitern geführt hat, dass mit der Fusion von Fiat und Chrysler und dem Wegzug aus Italien für die Agnellis ein langgehegter Wunsch in Erfüllung gehe. „Weg von Turin“, weg vom verkrusteten System des Landes, das sei schon ein Traum des „Avvocato“ Giovanni Agnelli gewesen. Über die ausbleibenden Reaktionen in Italien gibt es keinerlei Verwunderung: „Die Leute wissen, warum Fiat sich so entschieden hat.“ Fiat habe in der Vergangenheit Milliarden in Fabriken auf italienischem Staatsgebiet investiert und sei damit immer noch gebunden. „Doch im Moment wollen eigentlich alle weg“, lautet das Urteil des italienischen Spitzenmanagers. „Italien ist erstarrt und unternehmensfeindlich, die Unternehmen werden auf vielerlei Weise gequält, alles ist sehr schwierig, und außerhalb funktioniert praktisch nichts.“ Die Schlussfolgerung ist vernichtend: „Das System Italien kostet so viel Geld, dass man unwirtschaftlich ist, bevor man angefangen hat zu arbeiten.“
Derartige Urteile sind in der Wirtschaft immer wieder zu hören. Doch kaum jemand wagt es, seine Meinung ganz offen mit Angabe von Namen und Funktion in die Fernsehkameras zu sagen. Allzu abschreckend ist, wie die öffentliche Meinung jahrelang mit dem Fiat- und Chrysler-Chef Sergio Marchionne umgegangen ist. Der hat in den vergangenen Jahren immer wieder offen Kritik an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Italiens und dem schwierigen Umfeld für Unternehmen geäußert. Doch deswegen wurde Marchionne jahrelang als Buhmann behandelt – bis auch er sich in den vergangenen Monaten so verbindlich und diplomatisch zeigte, wie es in Italien erwartet wird.
Belegschaft im Inland verkleinert
Für viele Unternehmer und Spitzenmanager war gar nicht das abschreckende Schicksal von Marchionne nötig, um sich zu orientieren. Entscheidungen über Investitionen im Ausland werden lieber in aller Stille getroffen. Viele Unternehmen vermeiden in den offiziellen Bilanzen oder in der Unternehmenskommunikation Angaben über die Entwicklung der Belegschaft im Ausland. Dabei zeigt eine Untersuchung dieser Zeitung über die Entwicklung der Beschäftigung in Italiens wichtigsten börsennotierten Industrieunternehmen, dass sich viele von ihnen seit Jahren in Richtung Ausland orientieren und tendenziell im Inland die Belegschaft verkleinern. Ausgerechnet Fiat hat auf dem Papier die Belegschaft in Italien konstant gehalten, weil Mitarbeiter in Kurzarbeit offiziell mitgezählt werden.
Selbst im kurzen Zeitraum von 2008 bis 2012 ist bei vielen Unternehmen Personalabbau in Italien und Personalzuwachs im Ausland zu verzeichnen. Dies betrifft sogar die staatlich kontrollierten Konzerne Eni und Enel. Doch auch erfolgreiche Konzerne wie Luxottica oder Pirelli verringerten die Belegschaft in Italien und stellten Tausende zusätzlicher Mitarbeiter im Ausland ein. Von 35 Industrieunternehmen aus dem Standardindex FTSE Mib und dem Index der Mittelständler FTSE Mid Cap haben 14 ihre Belegschaft in Italien verringert und nur sechs zusätzlich eingestellt. Im Ausland wuchs die Mitarbeiterzahl von 25 Unternehmen. Zusammengenommen erhöhten diese ihre Beschäftigung außerhalb Italiens um rund 80.000 Mitarbeiter. Insgesamt stieg bei 28 der 35 Industrieunternehmen der prozentuale Anteil der Belegschaft im Ausland. Dieser Anteil lag 2012 bei zehn dieser Unternehmen bei mehr als 80 Prozent, bei weiteren elf oberhalb von 60 Prozent. Im gleichen Zeitraum, von 2008 bis 2012, hat sich in Deutschland in der Konzernbilanz von Volkswagen die Mitarbeiterzahl – einschließlich Porsche – in Deutschland um 50000 erhöht, wobei der Anteil der Beschäftigung im Ausland von 50,2 auf 55,6 Prozent stieg. Bei Siemens sank die Gesamtbelegschaft, der Anteil im Ausland sank von 68 auf 67 Prozent.
„Es werden nicht direkt Arbeitsplätze ins Ausland verlagert“
Die Frage, ob eine Zunahme der Beschäftigung im Ausland eher negativ oder positiv zu bewerten sei, hatte Italien in früheren Jahren bewegt, als viele Kleinunternehmer ihre Produktion nach Rumänien verlegten. Seither suchen die Unternehmer zu unterscheiden zwischen einer bedenklichen „Abwanderung“ und einer positiven „Internationalisierung“. Mit fünf Fabrikeröffnungen innerhalb von zwei Jahren – alle im Ausland – zeigte zuletzt der Bremsenhersteller Brembo kräftiges Wachstum auf Auslandsmärkten. Der Präsident des Unternehmens, Alberto Bombassei, sieht im Vordergrund die Notwendigkeit, mit Fabriken in China, den Vereinigten Staaten, Polen oder Tschechien seinen Kunden zu folgen. Selbst für ihn als Verteidiger der Investitionen im Ausland ist klar: Man könne nicht international wettbewerbsfähig bleiben, wenn man nur in Italien produziere. „Es werden nicht direkt Arbeitsplätze ins Ausland verlagert“, urteilt Bombassei und fügt hinzu, ausgerechnet Fiat habe die Produktion des Kleinstwagens „Panda“ aus Polen nach Neapel verlegt. Dass insgesamt die Beschäftigung im Ausland zunimmt und in Italien abgebaut wird, bestreitet Bombassei nicht. „Das Problem ist die schwierige Konjunktur auf dem Heimatmarkt und das Defizit an Wettbewerbsfähigkeit seit 30 Jahren.“
„Es kommt nicht allein auf die Zahl der Mitarbeiter an, sondern auch auf deren Qualifikation und Gehalt“, sagt Gianfelice Rocca, Vorsitzender des Unternehmerverbandes der Lombardei und Präsident des Technologiekonzerns Techint. Globalisierung könne auch bedeuten, dass wenig qualifizierte Arbeit anderswo geleistet werde und Unternehmensplanung und Entwicklung in Italien blieben, sagt Rocca. Doch Italien sei nicht flexibel genug, um wenig qualifizierte Arbeit so lange wie möglich zu halten, und nicht anpassungsfähig genug, um aus der Neuverteilung der qualifizierten und einfacheren Beschäftigung eines globalen Konzerns Vorteile zu ziehen. Bezogen auf Fiat, sei weniger der Umzug des Firmensitzes von Bedeutung, mehr die Frage, ob künftig mehr Autos in Turin oder in Detroit entwickelt würden.
Solche Argumente sind für Italiens öffentliche Diskussion derzeit viel zu differenziert. Dort kämpfen gerade die Gewerkschafter und Mitarbeiter des schwedischen Electrolux-Konzerns gegen die Schließungspläne für eine von vier italienischen Fabriken und gegen Vorschläge von Lohnkürzungen. Zugleich warnt der Vorsitzende des Unternehmerverbandes, ohne Kurswechsel werde Italien, industriell gesehen, zur Wüste werden. Doch für Italien sind dies seit Jahren wiederholte Rituale ohne Konsequenzen.