Das Märchen von der Chrysler-Rettung - ftd.de, 07.10.2009
Das Schicksal von Chrysler liegt in den Händen von Sergio Marchionne. Der Wunderheiler könnte schon bald zum Totengräber werden.
Viel zu verlieren hat Sergio Marchionne nicht, jedenfalls nicht in Detroit. Vor vier Monaten hat der charismatische Italo-Kanadier die Führung des Chrysler-Konzerns übernommen. In Italien lässt er sich als Fiat-Retter feiern, für Chrysler ist er der letzte Hoffnungsträger. Entweder gelingt ihm in Amerika eine zweite Wunderheilung - oder Chrysler wird abgewickelt. Wer an Wunder glaubt, darf weiter hoffen. Alle anderen sollten sich auf die zweite Option einstellen.
Gerade 100 Tage Schonfrist hat Marchionne Peter Fong und Michael Accavitti gewährt. Die Chefs der Konzernmarken Chrysler und Dodge sollten das ramponierte Image aufpolieren - eine gewaltige Herausforderung. Offenbar zu gewaltig für die beiden, fand Marchionne. Und tauschte sie einfach aus.
Diese Entscheidung zeigt vor allem eines: Die Nerven im Hause Chrysler liegen blank. Seit dem Abschluss der Blitzinsolvenz im Juni und der Übernahme durch die Gewerkschaft, die US-Regierung und Fiat verliert Chrysler Monat für Monat Marktanteile. Nicht einmal von der Abwrackprämie, die dem Rivalen Ford Rekordabsätze bescherte, konnten Chrysler und Dodge profitieren. Die einzige Konzernmarke, die sich tapfer hält, ist Jeep.
Dass Chrysler in seiner heutigen Form nicht zu retten ist, hat auch Marchionne längst erkannt. Offen aussprechen will der 57-Jährige die harte Wahrheit aber noch nicht. Offiziell gilt weiter der Plan, die Fiat-Technologie aus Italien in die USA zu bringen und damit - fast im Handumdrehen - die Chrysler-Flotte zu modernisieren. Zugleich sollen die schönsten Fiat-Modelle künftig auch in den Chrysler-Werken in den USA gebaut werden. Und dort sogleich den Markt erobern.
Ganz vorsichtig, Schritt für Schritt, bereitet Marchionne die Öffentlichkeit nun darauf vor, dass dieser Plan womöglich noch nachgebessert werden muss. Er sei erschrocken, als er feststellen musste, wie schlimm es um Chrysler tatsächlich stünde, teilte Marchionne auf der Frankfurter Automesse mit. Hat sich der erfahrene Branchenkenner etwa von den Amerikanern blenden lassen?
Wohl kaum. Viel zu gründlich haben die Experten von Fiat den angeschlagenen US-Konzern durchleuchtet, viel zu gut ist Marchionnes Kenntnis des amerikanischen Marktes. Und bei allem, was man ihm vorwerfen kann: Naiv ist dieser Fiat-Chef sicher nicht.
Marchionne wusste genau, worauf er sich einließ, als er im Juni die Führung von Chrysler übernahm. Der Auftrag der US-Regierung, die ihren Traditionskonzern nicht einfach sterben lassen wollte, war eindeutig formuliert: Retten, was noch zu retten ist. Der zweite Auftrag, den Marchionne in eigener Sache ausführt, ist etwas komplizierter.
In Wahrheit geht es dabei vor allem um Fiat . Den drohenden Kollaps des italienischen Traditionskonzerns konnte Marchionne zwar abwenden, doch für eine stabile Zukunft in Eigenständigkeit ist Fiat viel zu klein. Mindestens eine Million Autos muss ein Massenhersteller jährlich auf jeder Plattform bauen, hat Marchionne selbst einmal vorgerechnet. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen die Italiener höhere Stückzahlen und einen größeren Markt. Die Lösung lag auf der Hand: Nach 30 Jahren Abstinenz muss Fiat zurück nach Nordamerika.
Mit dem Einstieg bei Chrysler bekommt Marchionne nun genau das, was er in Amerika braucht: Werke, Händler und Monteure. Alles andere bringt er aus Italien mit.
Der Traum, Fiat in den USA mal eben als moderne Marke zu etablieren, ist allerdings naiv. Marchionne wird einige Jahre brauchen, um das ramponierte Image aus den 70er-Jahren vergessen zu machen und Fiat, Alfa Romeo oder Lancia auf dem härtesten Automarkt der Welt zu platzieren. Mit Kampfpreisen drücken derzeit bereits die Koreaner ihre neuen Modelle in den Markt. Und am anderen Ende lauern Toyota und Volkswagen .
Marchionnes Idee, das breite Händlernetz von Chrysler für den Fiat-Vertrieb zu nutzen, ist grundsätzlich gut. Sie hat nur einen Haken: An den Küsten, in New York und Kalifornien, wo die Amerikaner mittlerweile die Vorzüge kleinerer Autos durchaus zu schätzen wissen, sind Chrysler und Dodge kaum noch vertreten. Ihre Händler sitzen fast alle auf dem Land, im Mittleren Westen. Und dort kaufen die Amerikaner nach wie vor ihre großen Pick-ups. Bullige Kraftpakete wie den Dodge Ram, der sich in seinem Segment vergleichsweise gut behaupten kann und als Hoffnungsträger im Hause Chrysler gilt. Und was macht Marchionne? Er spaltet den Ram von den übrigen Dodge-Autos ab. Damit würde "der einzigartige Charakter der Dodge-Fahrzeuge geschützt und weiterentwickelt", teilt Chrysler offiziell mit.
Mag sein. Vor allem aber wird damit der Weg geebnet, um den Ram separat zu erhalten und den traurigen Rest von Dodge bei der nächsten Gelegenheit endgültig abzuwickeln. Und Chrysler gleich mit.
Was übrig bliebe, wären Jeep und Ram. Zwei gute Nischenprodukte, für die sich sicher ein Abnehmer findet. Dann wären da noch die Werke, die Händler und die Mitarbeiter. Mit ein paar Tausend Fiat-Modellen im Jahr werden die sicher nicht zu retten sein. Also braucht Marchionne dringend einen neuen, großen Partner: Nur gemeinsam mit einem echten Massenhersteller kann Fiat die kritische Größe erreichen, um die Kosten für Entwicklung und Vertrieb profitabel umzulegen. Dies gilt in Europa - und in Amerika erst recht. Potenzielle Partner gibt es dort inzwischen genug, vor allem unter den asiatischen Herstellern.
Sollte Marchionne einen solchen Partner finden, hätte er drei Probleme auf einen Schlag gelöst: Fiat wäre über den Berg. Die Italiener wären endlich wieder in Amerika auf dem Markt. Und die erforderliche Infrastruktur wäre auch schon da. Nur einer bliebe leider auf der Strecke: der gute alte Chrysler. Aber der ist ja eh schon tot.